Album: Bon Iver
Künstler: Bon Iver
Herkunft: Eau Claire, Wisconsin, USA
Mitglieder: Justin Vernon, Michael Noyce, Sean Carey, Matthew McCaughan
klingt wie: Post-Waldhütte
Immer wenn du denkst es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Wäldlein her.
Sagt zumindest eine legendäre Singer-Songwriter-Weisheit. Denn fast jeder gute Folk-Barde hat sich, sein Leben, sein kreatives Schaffen und sein latentes Songmaterial schon einmal gerettet, in dem er alle urbanen Zelte abbrach und in den einsamen Wald flüchtete, wo er auf unbestimmte Zeit sozial abgeschottet vor sich hinvegetierte, den Bartwuchs trainierte, die Stimmbänder ölte und letztendlich das bisherige Leben so stark reflektierte, dass er Jahre später mit 1000 neuen Songs im Gepäck den Wald wieder verließ, im Blitzlichtgewitter in die Zivilisation zurückkehrte und ein Star wurde. Wer einen solchen oder ähnlichen Werdegang im musikalischen Lebenslauf nicht vorweisen kann, der sollte die Singer-Songwriter-Karriere nochmal gründlich überdenken oder Techno-Produzent werden (hierfür reicht oftmals schon ein einfaches abgedunkeltes Zimmer).
Justin Vernon hat damals alles richtig gemacht. Band weg, Beziehung kaputt, Pfeiffersches Drüsenfieber – der Irrsinn des Lebens führt immer in den Wald, hinein in die Natur, die Stille, den Ursprung, die Quelle des Lebens. Als er den Wald 2007 wieder verließ hatte er nicht nur einen klangvollen Künstlername (und ja, es heißt Boniwer, fast so wie „guter Winter“ im Französischen, aber wer braucht schon dieses vokalische H?) sondern auch ein komplett selbst eingespieltes Debüt-Album im Gepäck.
Und dann das:
Wer bei „For Emma, Forever Ago“ nicht klammheimlich stürzende Bäche bitterlicher Tränen vergoss, der war entweder ein ekelhafter menschlicher Eisbrocken, hatte ein hartes Herz aus Stein oder einfach keinen Musikgeschmack.
Alle anderen traf der Pfeil, den Justin Vernon drei Monate lang zuvor in seiner Holzhütte formte, schliff und schärfte, schonungslos und schmerzlich mitten in die ahnungslosen Herzen, die daran umgehend zerbrachen, so intim, so gnadenlos authentisch war dieses Debüt. Alles triefte vor Traurigkeit: die Lyrics, die Akustikgitarre, die chorälen Falsett-Gesänge, die Hörner in „For Emma“... Und dennoch: dieses schlichtweg herzzerreißendes Debüt wirkte wie ein großes allmächtiges Trostpflaster für seelische Wunden aller Art.
Und so mutierte Justin Vernon zum Falsett-Gott aller Holzfällerhemdenhipster/Bartträger/solcher, die es gern sein würden/Pitchfork-RSS-Feed-Abonnenten. Eine Art unpolitischer Bob Dylan - Herzschmerz statt Protestsong. Folkmusik für eine orientierungslose, gebrochene Generation.
Den Nagel auf den Kopf der Zeit treffen macht begehrt und populär und Justin Vernon sah sich plötzlich in unzählige andere Projekte verwickelt: Kanye was calling oder Volcano Choir oder The National oder Gayngs ... Kein Wunder also, dass es satte vier Jahre in Anspruch nahm, um dem wunderlichen Meisterstück ein weiteres Wunderwerk nachzulegen, aber jetzt dürfen alle Pop-Eremiten endlich erleichtert aufatmen.
Bon Iver, die ja manchmal irgendwie auch eine Band sind, entledigen sich auf dem selbstbetitelten Zweitwerk merklich der für den Sound des Debüt doch so prägnanten Reduziertheit (komplizierter Satz). Schon der Opener „Perth“ übt sich eher im bombastischen (Übertreibung) Ausbruch als in stiller, schmerzhafter Zurückhaltung. Nein, vielmehr balanciert er irgendwo dazwischen, denn trotz der vermehrt üppigeren Instrumentierung bleibt die Intimität irgendwo erhalten. Zwischen Spieltrieb und Experiment, liegt sie in vielen kleinen Momenten verborgen, eine Nähe, die fast schon Angst machen kann.
Auch den Falsett-Gesang, der durch Overdubs in seiner Herzschmerz-Wirkung maximiert wird, ist geblieben, wird aber durch die Entdeckung der wiedergewonnenen Salonfähigkeit des Saxofons und, wie sollte es anders sein, die Einführung des omnipräsenten Synthesizers (Hinnom, TX/Calgary) auf eine neue Ebene gehievt, von der man fast schon sagen könnte „Bon Iver ist Pop“. Da aber ja eigentlich alles irgendwie Pop ist, ist Bon Iver nach wie vor auch Bon Iver geblieben. Bon Iver ist eher der großangelegte Entwurf einer musikalischer Intimität, die sich der Einsamkeit abschwört und die weiß, dass gebrochene Herzen auch wieder heilen, irgendwann.
Anspielen
- Perth
- Holocene
- Minnesota, WI
- Michicant
- Calgary
Synthie aus Marzahn: Johanna Eisner